 |
I. Wann liegt Scheinselbständigkeit vor – was sagt die Rechtsprechung?
Scheinselbständigkeit wird dann angenommen, wenn eine Person formal als Selbständiger geführt wird, tatsächlich jedoch die typischen Merkmale eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses aufweist. Dazu gehören insbesondere:
- Weisungsgebundenheit: Der Betroffene erhält detaillierte Vorgaben, die über das übliche Maß einer selbständigen Tätigkeit hinausgehen.
- Eingliederung in die Betriebsorganisation: Die Tätigkeit ist organisatorisch in den Betrieb eingebunden, etwa durch die Nutzung betrieblicher Ressourcen und Arbeitszeiten, die an die Unternehmensabläufe gebunden sind.
- Wirtschaftliches Risiko: Echte Selbständige tragen ein unternehmerisches Risiko, während Scheinselbständige oft nur formal als solche deklariert sind, aber weitgehend wie Angestellte arbeiten.
Gerichtsurteile – etwa unter Prüfung durch das Bundessozialgericht – legen in Einzelfällen dar, dass diese Kriterien jeweils im Gesamtkontext zu bewerten sind. Entscheidend ist, ob die betreffende Tätigkeitsmöglichkeiten zur freien Gestaltung und unternehmerischen Verantwortung bietet oder ob sie weitgehend in den organisatorischen Rahmen eines Arbeitgebers eingebettet ist. Liegen diese entscheidenden Merkmale vor, wird rechtlich von einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis ausgegangen, was zu einer Umqualifizierung und damit zu Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen führen kann .
II. Sonderfragen zur Scheinselbständigkeit
Was ist die Definition für Scheinselbständigkeit ? Wann ist es wegen was strafbar? Was sagen die höchsten Gerichte dazu?
1. Definition der Scheinselbständigkeit
Scheinselbständigkeit bezeichnet ein Arbeitsverhältnis, bei dem eine Person – obwohl sie vertraglich als Selbständiger (z.?B. auf Basis von Werk- oder Dienstverträgen) geführt wird – in der Praxis sämtliche oder wesentliche Merkmale eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses aufweist. Entscheidend sind dabei nicht die formalen Bezeichnungen, sondern die tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Typische Merkmale sind:
- Weisungsgebundenheit: Der Betroffene unterliegt detaillierten Anweisungen hinsichtlich Arbeitszeit, -ort und -ausführung.
- Betriebliche Eingliederung: Der Auftragnehmer ist organisatorisch in den Betrieb des Auftraggebers eingebunden (z.?B. Nutzung betrieblicher Arbeitsmittel oder der Arbeitsstätte).
- Fehlendes unternehmerisches Risiko: Echte Selbständigkeit zeichnet sich durch die Übernahme des unternehmerischen Risikos aus – was in einem scheinselbständigen Verhältnis meist fehlt, da der Auftragnehmer wirtschaftlich überwiegend von einem einzigen Auftraggeber abhängig ist.
Diese Kriterien werden etwa von der Deutschen Rentenversicherung und im Statusfeststellungsverfahren herangezogen, um festzustellen, ob das vorliegende Arbeitsverhältnis tatsächlich frei oder als abhängige Beschäftigung zu qualifizieren ist.
2. Strafbarkeit und strafrechtliche Konsequenzen
An sich stellt das Vorliegen von Scheinselbständigkeit noch keinen eigenen Straftatbestand dar. Strafbar wird es jedoch, wenn diese Konstellation vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wird, um gesetzliche Beitragspflichten zu umgehen. Konkret kann dies in folgenden Fällen der Fall sein:
- Vorsätzliche Umgehung von Sozialversicherungsbeiträgen: Wird bewusst versucht, die Zahlung von Beiträgen in die Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung zu vermeiden, weil der Auftragnehmer als selbständig deklariert wird, obwohl er de facto wie ein Arbeitnehmer tätig ist.
- Versicherungsbetrug: Der Vorwurf kann insbesondere unter dem Gesichtspunkt des „Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt“ sowie unter strafrechtlichen Tatbeständen wie der vorsätzlichen Steuerhinterziehung geprüft werden.
In solchen Fällen können neben erheblichen Nachzahlungen auch Geldstrafen – und in besonders gravierenden Fällen Freiheitsstrafen – drohen. Dabei greifen oft strafrechtliche Vorschriften, wie sie beispielsweise im Rahmen von § 266a StGB diskutiert werden.
3. Höchstrichterliche Rechtsprechung
Die obersten Gerichte in Deutschland – insbesondere das Bundessozialgericht (BSG) sowie diverse Landessozialgerichte – haben in zahlreichen Urteilen klare Maßstäbe zur Abgrenzung zwischen echter Selbständigkeit und scheinselbständiger Tätigkeit entwickelt.
Die wesentlichen Erkenntnisse aus der höchsten Rechtsprechung umfassen:
- Tatsächliche Arbeitsbedingungen im Fokus: Es reicht nicht, allein auf den vertraglichen Status zu schauen. Entscheidend ist das Gesamtbild der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse. Ist ein Auftragnehmer in den organisatorischen Ablauf des Auftraggebers eingebunden, Weisungen unterworfen und hat er wenig bis keine unternehmerische Entscheidungsfreiheit, spricht dies für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis.
- Integration und Weisungsgebundenheit: Die Gerichte betonen, dass die Eingliederung in den Betrieb und die Weisungsgebundenheit – selbst wenn vertraglich als Freiberufler deklariert – als starke Indizien für eine Scheinselbständigkeit gelten.
- Statusfeststellungsverfahren: Aufgrund der oft sehr differenzierten Einzelfallbetrachtung hat sich das Verfahren der Statusfeststellung etabliert, in dem anhand konkreter Kriterien (z.?B. Arbeitsort, Arbeitszeitgestaltung, wirtschaftliche Abhängigkeit) entschieden wird, ob die Voraussetzungen für ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis vorliegen.
Diese Entscheidungen haben weitreichende Konsequenzen: Wird im Verfahren festgestellt, dass eine Scheinselbständigkeit vorliegt, sind Arbeitgeber oft verpflichtet, sämtliche rück-ständige Sozialversicherungsbeiträge nachzuzahlen – und im Falle eines vorsätzlichen Handelns drohen strafrechtliche Sanktionen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung unter-streicht somit, dass eine reine formale Selbständigkeit nicht haltbar ist, wenn die tatsächlichen Gegebenheiten überwiegend eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses entsprechen.
III. Beispiele
Was sind Beispiele für wichtige Gerichtsentscheidungen zur Scheinselbständigkeit?
Nachfolgend einige prominente Beispiele für Gerichtsentscheidungen, die häufig als Referenz in der Diskussion um Scheinselbständigkeit herangezogen werden:
1. Urteil des LSG Niedersachsen?Bremen im Fall eines Hörfunkreporters (Az.: L 12 BA 9/23):
In diesem Fall wurde entschieden, dass ein Hörfunkreporter, der – trotz freier vertraglicher Gestaltung – in erheblichem Maße in die Arbeitsorganisation des Senders eingebunden ist und feste Arbeitszeiten sowie vorab definierte Einsatzzeiten hat, als abhängig Beschäftigter zu qualifizieren ist. Diese Entscheidung unterstreicht, dass allein der formale Status als Freier nicht ausschlaggebend ist, sondern die tatsächliche Ausgestaltung der Tätigkeit entscheidet.
2. Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts im Fall der Reitlehrerin ohne eigene Pferde:
Hier hat das Gericht festgestellt, dass eine Reitlehrerin, die – im Gegensatz zu einem unternehmerisch tätigen Selbständigen – ausschließlich über vereinseigene Ressourcen (Pferde und Reithalle) verfügt und dabei kaum unternehmerische Entscheidungsfreiheit besitzt, als abhängig beschäftigt gilt. Die tagesstrukturierende Weisungsgebundenheit und die Eingliederung in den Betriebstablauf waren entscheidende Indizien.
3. Das „Pool-Arzt“-Urteil des Bundessozialgerichts (Az.: B 12 R 9/21 R):
In diesem Fall wurde erörtert, ob ein Arzt, der im Rahmen eines Notdienstes tätig ist und in organisatorische Abläufe eines ärztlichen Pool-Systems integriert wird, nicht als echter Selbständiger, sondern als abhängig Beschäftigter einzuordnen ist. Das Urteil verdeutlichte, dass auch fachliche Autonomie nicht automatisch den Status der Selbständigkeit begründet – die strukturelle Eingliederung und Weisungsbindung können den sozialversicherungsrechtlichen Status maßgeblich beeinflussen.
4. Musterverfahren zu Scheinverträgen in Baden?Württemberg (Az.: L 8 BA 3118/20):
Dieses Verfahren wurde als Musterfall geführt, um „Scheinverträge“ zur Umgehung der Sozialversicherungspflicht zu hinterfragen. Das Gericht machte klar, dass Verträge, die formal den Status eines Selbständigen vorsehen, aber in der Praxis wesentliche Merkmale eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses aufweisen – wie feste Arbeitszeiten, Weisungsabhängigkeit und fehlendes unternehmerisches Risiko –, als Scheinselbständigkeit zu werten sind. Diese Entscheidung hat weitreichende Bedeutung, da sie als Präzedenzfall für zahlreiche ähnliche Fälle herangezogen wird.
5. Weitere Entscheidungen in Bezug auf Fitnesstrainer und Freelancer in kreativen oder beratenden Branchen:
Diverse Urteile, etwa von bayerischen oder nordrhein-westfälischen Landessozialgerichten, haben sich mit der Frage beschäftigt, ob freiberuflich tätige Fitnesstrainer oder Berater, die in die Betriebsabläufe eines Studios beziehungsweise einer Institution stark eingebunden sind, sozialversicherungspflichtig anzusehen sind. Diese Fälle zeigen, dass es immer auf den Gesamtkontext der Tätigkeit ankommt – von Arbeitszeiten über Weisungsabhängigkeit bis hin zur wirtschaftlichen Risikoverantwortung.
6. Strafrechtsfall zu § 266a StGB wegen Scheinselbständigkeit Die Vereinbarung von freier Mitarbeit in vielen Branchen üblich. Die sozialrechtlichen Risiken einer freien Mitarbeit werden dagegen oft unterschätzt: Säumniskosten (12 % pro Jahr) Risiko einer Nettolohnhochrechnung.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urt. v. 8.3.2023 - 1 StR 188/22 - die Verurteilung eines selbständigen Arbeitgebers nach §266a StGB bestätigt: „(…) Vor allem durfte das Landgericht seine Wertung rechtsfehlerfrei mit dem für die höheren Dienste zentralen Kriterium des Unternehmerrisikos, das hier fehlte, und der Art der Vergütung begründen. Es hat zutreffend insoweit darauf abgestellt, dass der Angeklagte den Mitarbeitern für ihre volle Arbeitskraft faktisch ein festes Jahresgehalt auszahlte, dessen Höhe gänzlich unabhängig vom Gewinn und Verlust der Kanzlei und – insbesondere – der von ihnen erbrachten Arbeitsleistung war (…)“
Das Urteil des BGH zeigt die aktuelle Tendenz der Sozialgerichte zur Bewertung von freier Mitarbeit und Scheinselbständigkeit. Die Anforderungen die Selbständigkeit anzuerkennen, steigen. Die Gesamtabwägung muss ergeben, dass die Indizien der Selbständigkeit klar und eindeutig überwiegen.
Was kann ich tun?
- Prüfung Verträge
- Prüfung Selbständigkeit und Beschäftigungsstatus
- Vorsorgliche Beratung bei Zwangsmaßnahmen und das richtige gesetzeskonforme Verhalten bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen
- Beratung und Verteidigung bei strafrechtlichen Ermittlungen vor Behörden und Gerichten
- Beratung wegen Versicherungsschutz der Geschäftsleitung ( D&O Versicherung und die Einschränkungen)
- Strafrechtlicher Versicherungsschutz ( Möglichkeiten und Einschränkungen) und vorsorglicher Sicherstellung einer qualifizierten Verteidigung
- Absicherung der Familie bei zivil- und strafrechtlichen Angriffen auf die Geschäftsleitung
- Strafverteidigung
Hermann Kulzer MBA Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht Fachanwalt für Insolvenzrecht Strafverteidiger
|
 |